Zentren der politischen Emigration während des Kalten Krieges. Einfluss und Wirkungen auf das politische Denken über Europa. 9. Ost-westeuropäisches Gedenkstättenseminar Kreisau

Zentren der politischen Emigration während des Kalten Krieges. Einfluss und Wirkungen auf das politische Denken über Europa. 9. Ost-westeuropäisches Gedenkstättenseminar Kreisau

Organisatoren
Gedenkstätte Stiftung Kreisau, Evangelische Akademie zu Berlin, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität, Warschau in Verbindung mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin
Ort
Krzyzowa/Kreisau
Land
Poland
Vom - Bis
30.03.2011 - 02.04.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Anja Werner, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Das diesjährige ost-westeuropäische Gedenkstättenseminar im polnischen Krzyźowa (Kreisau) widmete sich dem Thema „Zentren der politischen Emigration während des Kalten Krieges. Einfluss und Wirkungen auf das politische Denken über Europa.“ Im Mittelpunkt stand die politische Emigration als Teil der Oppositions- und Widerstandsbewegungen in Ost- und Mitteleuropa sowie die Behandlung des politischen Exils in Museen und Archiven mit dem Schwerpunkt der Beziehung der Exilanten zu ihren Heimatländern. Zusätzlich zu den Vorträgen stellte die Uraufführung des Dokumentarfilms „Im Schatten des Gulag. Als Deutsche unter Stalin geboren“ im Beisein der Regisseurin Loretta Walz einen Höhepunkt dar, ebenso ein Besuch der Ossolineum Nationalbibliothek in Wrocław (Breslau). Das Ossolineum-Archiv bewahrt die Erinnerung an das politische Exil und stellt der Forschung Materialien zur Verfügung. Eine Sondersammlung umfasst den Nachlass von Jadwiga und Jan Nowak-Jezioranski. Nicht zuletzt war es sein Wirken als eine der zentralen Figuren im polnischen Widerstand während des 2. Weltkrieges und innerhalb der polnischen Nachkriegsemigration, das Jan Nowak-Jezioranski (1914-2005) für die Tätigkeit als Gründer und langjährigen Leiter von Radio Free Europe vorbereitete. Die Idee des Radio Free Europe führte wie ein roter Faden durch die Tagung.

Die ersten Vorträge gaben aus wissenschaftlicher Perspektive einen Einstieg in die Geschichte der Emigration nach dem 2. Weltkrieg in Polen und der Ukraine. RAFAL HABIELSKI (Warschau) stellte drei zentrale Gruppen bzw. Institutionen der polnischen Emigration vor: die Londoner Exilpolen, die in Paris angesiedelte polnische Publikation „Kultura“ und das Radio Free Europe. Die erste Gruppe verlor laut Habielski den Kontakt zur Heimat und zog sich zunehmend in eine Selbstfokussierung zurück; zu ihren Zielen gehörten Souveränität, Unabhängigkeit und Territorium. Die „Kultura“ hingegen habe über das Wort mit Informationen als Waffe die Heimat zu erreichen versucht. Radio Free Europe schließlich war nicht das erste polnische Radio im Ausland, aber das erste, das eine polnische Sichtweise als Alternative zur offiziellen Propaganda angeboten habe. Während politischer Krisenmaßnahmen stieg die Zuhörerschaft spürbar an.

PIOTR OLSZÓWKA (Berlin) ging in seinem Vortrag näher auf die Pariser „Kultura“ ein. Die Zeitschrift entstand 1946, baute allerdings auf einer Tradition aus dem 19. Jahrhundert auf, als nach dem Verlust der polnischen Unabhängigkeit das geschriebene Wort eine geistige Voraussetzung, eine Überlebensstrategie der polnischen Kultur darstellte, die Kontinuität erlaubte. Das geschriebene Wort sicherte Kontinuität weniger im materiellen Sinne in Form von Bibliotheken, sondern im Sinne eines Weiterreichen des Gelesenen, das dann in Gedanken zu einer fiktiven, utopischen Welt wiederaufgebaut wurde, so Olszówka. Für die wichtigste polnische Exil-Nachkriegszeitschrift „Kultura“ war der Redakteur Jerzy Giedroyc richtungsweisend, mit dessen Tod im Jahre 2000 sie zu existieren aufhörte. Giedroyc’s „Kultura“ habe letztlich die Möglichkeit des geistigen Exils geboten.

ANDREJ KALICH (St. Petersburg) vertiefte diese Idee weiter. Er hob die „Emigration” auf einen abstraktere Ebene und unterstrich dabei die Komplexität des Themas. Das breit gefächerte Phänomen der „inneren Emigration” ist kennzeichnend für autoritäre und totalitäre Regime, bekannt durch Frank Thiess, selbst Schriftsteller im NS-Deutschland. Im Kontext fehlender Möglichkeiten der Meinungsäußerung oder Ausreise bedeutete „Innere Emigration” mit einer Doppelstimme zu sprechen und somit der offiziell verlangten Geschichtsschreibung die inoffizielle, im Familienkreis überlieferte, entgegenzusetzen. Der Weg von hier bis zur Aufnahme aktiver Maßnahmen ist schwierig und lang. Innere Emigration kann ein reines Gedankenkonstrukt sein, sie kann aber auch in realen privaten Räumen mit Gleichgesinnten stattfinden. In beiden Fällen verbindet die Tatsache, dass man die Umgebung – die Wirklichkeit – nicht akzeptiert. Die Perestroika in der Sowjetunion ist nach Kalichs Ansicht das Werk der inneren Emigranten, die im heutigen Russland weiterbestehen.

Zurück in der konkreten Welt der Emigration verlagerte sich mit dem Vortrag von ORESTA LOSYK (Lemberg) der Fokus auf die Ukraine. Ein kurzer Überblick führte in Emigrationswellen und –zentren des 20. Jahrhunderts ein. Verbindend wirkte, dass man die Hauptaufgabe der Emigration in der Bewahrung von Erbe und Kultur der Ukraine sah, um diese dann, sobald es möglich wäre, zurück in die Ukraine zu bringen. Dementsprechend gab es aktive kulturelle, publizistische und wissenschaftliche Aktivitäten der Auslandsukrainer, auf die nach der Unabhängigkeit zurückgegriffen werden konnte, so Losyk. Zwei Beispiele wurden genannt: die Geschichte der Publikation von Enzyklopädien ukrainischer Kulturen, die in den 1990er-Jahren durch rege Kontakte mit Ukrainern in der ganzen Welt wieder auflebte, außerdem das Institut für Ukrainistik an der Harvard University.

Die Schwerpunkte aus Habielskis und Losyks Vorträgen wurden in einer Diskussion vertieft, wobei Fragen der Multiperspektivität im Mittelpunkt standen, wie die polnische Perspektive im Gegensatz zur ukrainischen. Trotz intensiven kulturellen Engagements in der Emigration – oder gerade deswegen – sei, so das Resümee der Diskussion, die Prozentzahl der Rückkehrer nach Ende des Kalten Krieges dennoch vergleichsweise gering gewesen, allen voran aufgrund der inzwischen eingetretenen Verwurzelung in den Gastländern. Allerdings ließe sich zum Beispiel ein messbarer Anteil der Exilanten in der Ukraine bestatten.

Fallstudien zu einzelnen osteuropäischen Ländern standen während der gesamten Tagung immer wieder im Mittelpunkt. Ein weiterer Focus ruhte auf der Tschechoslowakei: VILEM PREČAN (Prag) verband als Zeitzeuge die eigene Biographie mit dem Forschungsgegenstand, während ANNA BISCHOF (München) ihre Doktorarbeit über „Die Emigration aus der ČSSR und das Radio Free Europe” vorstellte. Weitere Fallstudien wurden von IULIA VLADIMIROV (Rumänien) und RAINER EPPELMANN (Sonderfall DDR) diskutiert.

Vilem Prečan stellte drei Episoden der tschechoslowakischen Emigration vor, die in zwei Episoden während der beiden Weltkriege sowie einer weiteren in drei Wellen nach dem 2. Weltkrieg eingeteilt werden kann. Außerdem stelle sich die Frage nach einem separaten slowakischen Weg als eine besondere Herausforderung. Darüber hinaus sei die künstlerische Emigration, besonders auch seit Mitte der 1970er-Jahre, von der politischen getrennt gewesen und habe sich dadurch ausgezeichnet, dass Künstler in den Gastländern wenig isoliert waren. So gab es Publikationen der tschechoslowakischen Emigration in westeuropäischen Städten, in Schweden wurde unter anderem die Charta 77-Stiftung gegründet.1 Tschechoslowakische Exilanten seien unter anderem bemüht gewesen, die Informationsbarriere durch Bücherschmuggel zu durchbrechen, mit der einheimischen intellektuellen Szene schöpferisch zu kommunizieren, technische Mittel für Samisdatpublikationen zu organisieren oder auch die Familien politisch Verfolgter zu unterstützen. Anna Bischof analysierte daran anschließend die tschechoslowakische Redaktion von Radio Free Europe vornehmlich in den 1950er- und 1960er-Jahren, die sich aus den von Prečan beschriebenen Emigrationswellen rekrutierte, wobei die Generation der nach 1968 Emigrierten (im Vergleich zu früheren Emigranten) verstärkt selbst im kommunistischen Land gelebt und oft auch bereits Erfahrungen mit Rundfunkarbeit gemacht hatte.

Iulia Vladimirov repräsentierte das „Institut für die Erforschung kommunistischer Verbrechen und das Gedenken an das rumänische Exil, Bukarest.” Im Mittelpunkt ihres Vortrages stand Monica Lovinescu, die in den späten 1940er-Jahren von Rumänien nach Paris zum Studium aufgebrochen war und zu einer wichtigen Stimme des Radio Free Europe wurde. Fast von Anfang an stand sie in Westeuropa unter Beobachtung; 1977 wurde ein Attentat auf sie verübt, dem weitere gegen Mitarbeiter des Radio Free Europe folgten. Das Thema wird im Dokumentarfilm „Cold Waves” von Alexandru Solomon (2007) vertieft, mit dem Vladimirov ihren Vortrag in Ausschnitten abrundete.

Ganz anders der Sonderfall DDR. Rainer Eppelmann (Berlin), unterstrich, dass es in der DDR keine Emigranten gegeben habe, sondern nur „Verräter“ bzw. „Flüchtlinge“. Die sachlich neutrale Bezeichnung „Emigrant“ werde im Kontext der Fluchtbewegung von Ost- nach Westdeutschland bis 1989 nicht verwendet. Tatsächlich sind auch DDR-Bürger immer emigriert, für gewöhnlich unter Gefahr ihres Lebens. Sie versuchten die Aufmerksamkeit von Westjournalisten zu erregen, damit über die Tagesschau die Flucht- (bzw. Emigrations-) geschichten in die Wohnstuben von DDR-Bürgern getragen werden konnten. Aber inwiefern kamen DDR-Bürger in Westdeutschland tatsächlich in die Fremde?

Neben Fallstudien begleitete die Teilnehmer des Seminars immer wieder die Frage nach möglichen Quellen und Institutionen zur Erforschung der Emigrationsthematik. Ein zentrale Stellung unter den Archiven der Exilliteratur sowie innerhalb der Osteuropaforschung vom 1. Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks nehmen die „Hoover-Archives” der Leland Stanford Junior University (Kalifornien, USA) ein, die ZBIGNIEW STAŃCZYK vorstellte.2 Wie auch Prečan sprach Stańczyk sowohl als ehemaliger Historiker des Archivs (Schwerpunkt Unterlagen polnischer Emigrantengruppen), als auch als Zeitzeuge, der selbst lange Jahre im Exil fern seiner polnischen Heimat verbracht hatte. Archiv und Bibliothek sind ein grundlegender Bestandteil der 1919 gegründeten „Hoover Institution”, benannt nach dem ehemaligen US-Präsident Herbert Hoover. Fast 6000 verschiedene Sammlungen – darunter die gesammelten Sendungen von Radio Free Europe – sind hier verwahrt. Die Osteuropasammlungen sind mit ihren umfangreichen Primärquellen in den jeweiligen Landessprachen auf das 20. Jahrhundert ausgerichtet.

Mit einer Buchpräsentation kehrte man am Ende der Tagung zur Frage zurück, welche Bedeutung der Emigration innerhalb der Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit beigemessen werden muss. ANNA KAMINSKY (Berlin) präsentierte die jüngste Publikation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: ”Erinnerungsorte an die Opfer des Kommunismus in Belarus”. Damit gibt es mittlerweile sechs Bände in dieser Reihe.3 Der vorliegende Band beschreibt 141 Denkmäler und Erinnerungsorte, die heute an die Verbrechen und die Opfer der kommunistischen Diktatur in Belarus erinnern. Anhand dieser Erinnerungsorte lässt sich eine Geschichte der Unterdrückung in Belarus schreiben und die Verfolgung von Religion ebenso rekonstruieren wie die Verbrechen unter nationalsozialistischer und später unter sowjetischer Besatzung. Belarus vermeidet heute allerdings, an die Opfer des stalinistischen Terrors zu erinnern – es gibt keine staatliche Förderung und jene, die Gedenken initiieren, werden verfolgt. Viele der beschriebenen Erinnerungszeichen wurden wiederholt zerstört.

Die Abschlussdiskussion leitete Annemarie Franke (Gedenkstätte Stiftung Kreisau) mit dem Nachtrag ein, dass die Nowak-Jezioranski-Sammlung nach Breslau und nicht zu den Hoover-Archives kam, nachdem Nowak-Jezioranski Ende der 1990er-Jahre in Breslau die Gründung des „Kollegium Osteuropa” zur Förderung der polnisch-osteuropäischen Zusammenarbeit initiiert hatte. Er übergab seinen Nachlass der Nationalbibliothek Ossolineum, da er der Überzeugung war, dass gerade in den vor 1945 deutschen Gebieten des heutigen Westpolens die polnische historische Erfahrung Symbole und kultureller Speicher bedürfe. Die Stadt renovierte daraufhin ein Stadthaus, um einen Ausstellungsort für diese Sammlung neben den reichen Sammlungen des Ossolineums zu schaffen.

Dieser Nachtrag bot einen Ansatzpunkt, um Emigration und Exil mit deren Darstellung in Gedenkstätten und Museen in Verbindung zu bringen, wobei deutlich herausgestellt wurde, wie schwierig es ist, dieses Thema in der Museums- und Gedenkstättenarbeit angemessen zu berücksichtigen. Dabei bietet das Phänomen der Emigration eine Möglichkeit, in einen Dialog mit den Nachbarn zu treten, der – wie bemerkt wurde – allerdings noch stärker angeregt werden müsse. Man darf gespannt sein, in welche Richtung das Kreisauer Gedenkstättenseminar sich zu seinem 10. Jubiläum im nächsten Jahr bewegen wird.

Konferenzübersicht:

1. Panel: Politische Emigration als Teil der Oppositions- und Widerstandsbewegungen in Mittel- und Osteuropa

Rafal Habielski, Warschau: „Die politische Emigration angesichts der Situation in Polen nach 1945“

Oresta Losyk, Lemberg: „Das Erbe der ukrainischen Nachkriegsemigration und die Schwierigkeiten des angemessenen Erinnerns“

2. Panel: Wahrnehmung und Wirkungsweise des Exils – Beispiele

Vilem Prečan, Prag: „Das Archiv der tschechoslowakischen Opposition und das Dokumentationszentrum Scheinfeld“

Anna Bischof, München: „Die Emigration aus der ČSSR und das Radio Free Europe

Iulia Vladimirov, Bukarest: Monica Lovinescu, rumänisches Exil und Radio Free Europe

Rainer Eppelmann, Berlin: „Der Sonderfall DDR – Rolle der Emigration in den Westen für die Opposition im Land“

3. Panel: Behandlung des politischen Exils in Museen und Archiven – Beziehungen in den Heimatländern

Zbigniew Stańczyk, Stanford: „Hoover-Archives“

Piotr Olszówka, Berlin: „Das Beispiel der Pariser Kultura

Andrej Kalich, St. Petersburg: „Innere Emigration in der Sowjetunion: Selbstentfernung von der Realität oder Form des gewaltfreien Widerstands?“

Anna Kaminsky, Berlin: „Buchpräsentation: Erinnerungsorte an die Opfer des Kommunismus in Belarus“ (2011)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Der Text der Charta 77 kann hier nachgelesen werden (englisch): <http://libpro.cts.cuni.cz/charta/docs/declaration_of_charter_77.pdf> (15.06.2011) . Weiterführende Informationen finden sich hier: <http://www.bpb.de/publikationen/9YBJ95,4,0,Mitglied_im_kommunistischen_Lager.html> (15.06.2011).
2 Siehe <http://www.hoover.org/library-and-archives> (15.06.2011) .
3 Siehe <https://www.stiftung-aufarbeitung.de/publikationen/index.php?kategorie_id=22&SUBPAGETITLE=Internationale+Aufarbeitung#24g#24> (15.06.2011): A. Kaminsky (Hrsg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, 2. Auflage, Berlin 2007. Erinnerungsorte an den Holodomor 1932/33 in der Ukraine, 2007; Erinnerungsorte an den Massenterror 1937/38. Russische Föderation, 2007. Drei weitere Bände sind im Internet abrufbar: Gedenkorte zur Erinnerung an die ungarische Revolution 1956 (Budapest), 2006, <https://www.stiftung-aufarbeitung.de/publikationen/files/EO_Ungarn56.pdf> (15.06.2011); Erinnerungsorte Republik Korea (Südkorea), 2007, <https://www.stiftung-aufarbeitung.de/publikationen/files/EO_Korea.pdf> (15.06.2011) ; Erinnerungsorte an die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, 2008, <https://www.stiftung-aufarbeitung.de/publikationen/files/EO_Prag.pdf> (15.06.2011) .


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts